Das Gresham’sche Gesetz und AA

Das Gresham’sche Gesetz und AA

Das aus der Wirtschaftswissenschaft bekannte „Gresham’sche Gesetz“, welches besagt, daß schlechtes Verhalten das gute verdrängt und jede Person durch das Vorhandensein auch nur weniger Egoisten dazu gedrängt wird, selbst ein eigeninteressiertes Verhalten an den Tag zu legen, wirkt auch in der Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker. Schwaches AA neigt dazu, starkes AA zu verdrängen.

Es gibt drei Ansätze, im Programm der Anonymen Alkoholiker zu arbeiten:

1. Den starken, ursprünglichen Ansatz, dessen Wirksamkeit und Kraft sich seit über vierzig Jahren bewährt hat

2. Einen mittelstarken Ansatz – nicht so stark, nicht so sicher, nicht so gut aber noch wirkungsvoll

3. Einen schwachen Ansatz, der in Wahrheit nichts anderes ist als eine Häresie, eine Irrlehre, eine Verdrehung dessen, was die Gründer der AA sich unter dem Programm klar vorgestellt hatten

Als jemand, der seit elf Jahren Mitglied der Anonymen Alkoholiker ist, bin ich noch immer zutiefst von der Einfachheit, Praktikabilität und der Tiefe beeindruckt, welche die 12 Schritte, das AA Genesungsrezept, ausmachen. Dieser mutige Plan zur Lebensänderung wurde 1939 durch einen ehemals hoffnungslosen Trinker entworfen, der als Sprecher einer unbekannten Gesellschaft von 100 reformierten Problemtrinkern, von denen viele noch am Anfang ihrer Genesung standen, auftrat.

Trotz ihres umfassenden Anspruchs sind die Schritte so einfach formuliert und in den Kapiteln fünf ff. des „Großen Buches“ so gut erklärt, daß sie wirklich jeder arbeiten kann. Gerade hierin liegt ihre Genialität. Man muß zuvor nicht ein moralisch reines Leben geführt haben oder besonders vorgebildet sein. Es bedarf lediglich der Bereitschaft, sich die eigene Niederlage einzugestehen und des aufrichtigen Wunsches, sich zu ändern.

Die 12 Schritte widersprechen der weltlichen Annahme, daß man dort, wo das allgemeine Leistungsniveau niedrig ist, seine Erwartungen möglichst niedrig halten muß, um zu einem positiven Ergebnis zu kommen. Wären die Gründer dieser Sichtweise gefolgt, dann würde das Programm wohl aus nicht mehr bestehen als aus Abstinenz und der Rückkehr zu dem Leben, welches man geführt hat, bevor man mit dem Trinken begonnen hat, einem 08/15 Dasein. Doch unsere Gründer machten sich daran, ihr Leben vollständig in den Dienst Gottes zu stellen.

Die Autoren des „großen Buches“ wußten, daß dieser radikale Genesungsplan viele der Neuankömmlinge, welche sie zu erreichen versuchten verschrecken würde, und so unternahmen sie zwei Schritte, um ihnen die bittere Pille zu versüßen. Zunächst fügten sie folgende Erklärung unmittelbar nach der Aufzählung der 12 Schritte in Kapitel 5 des Buches „Anonyme Alkoholiker“ (von dem AA seinen Namen hat und welches auch das große Buch genannt wird) ein:

„Viele von uns riefen, was sind das für Vorschriften, das schaffe ich nie! Seien Sie nicht mutlos. Keiner von uns war in der Lage, diese Prinzipien auch nur annähernd VOLLSTÄNDIG zu befolgen. Wir sind keine Heiligen. Es kommt darauf an, daß wir bereit sind, anhand spiritueller Grundsätze zu wachsen. Wir strebten eher nach spirituellem Fortschreiten als nach spiritueller Vollkommenheit.“

Dieser kurze Absatz war eine echte Eingebung, vor allem der Satz „Wir sind keine Heiligen“. Er hat tausenden von neuen, nicht ganz überzeugten AA Mitgliedern (mich selbst inbegriffen) geholfen, darüber hinwegzukommen, daß wir, mit Hilfe der Schritte, in die völlig unbekannte Richtung geistiger Vervollkommnung gingen.

Die meisten von uns fingen an, die Schritte zu praktizieren, ohne uns wirklich darüber im Klaren zu sein, was sie eigentlich wirklich bedeuteten. Die Erfahrung zeigte uns schnell, daß sie funktionierten. Sie ließen uns nüchtern werden und halfen uns, nüchtern zu bleiben. Von unserem sehr pragmatischen Standpunkt aus betrachtet, war das genau worauf es ankam. Wir gaben uns damit zufrieden, unsere Nüchternheit zu genießen und überließen die Debatten darüber, warum die Schritte funktionierten, den nicht vom Alkoholismus betroffenen Fachleuten, deren Leben nicht auf dem Spiel stand, wenn sie in sich selbst Verwirrung stifteten und falsche Schlüsse zogen.

Die Gründer von AA unternahmen noch einen weiteren Schritt, um zu verhindern, daß die geistige Strenge und Kraft der 12 Schritte mögliche Interessenten verschrecken würde. Sie formulierten die Schritte von Richtlinien in Vorschläge bzw. Empfehlungen um. Der Einleitungssatz zu den 12 Schritten im 5. Kapitel des „großen Buches“ lautet: „Dies sind die Schritte, die wir unternahmen, welche als Programm zur Genesung vorgeschlagen werden.“ Seit der Zeit, in der das „große Buch“ erschienen ist, fand diese Idee überwältigenden Anklang in der AA Bewegung. Wir Trinker hassen es, uns sagen zu lassen, was wir zu tun haben. Die Freiheit, die Schritte im eigenen Tempo und auf die eigene Weise zu arbeiten wird unter AA Mitgliedern hochgeschätzt.

Bevor wir die Ergebnisse dieser freizügigen Haltung zu den Schritten erforschen, lohnt es sich noch die folgende Eigenartigkeit zu bemerken. AA existierte ganze vier Jahre bevor die Schritte in ihrer letztlichen Fassung niedergeschrieben wurden. Während dieser Zeit gab es ein Programm und es machte Alkoholiker nüchtern. Es bestand aus zwei Teilen – einem mündlich weitergegebenen 6-Schritte Programm und den „4 Absoluten“ – absolute Ehrlichkeit, absolute Reinheit, absolute Selbstlosigkeit und absolute Liebe – welche von der Oxford Gruppe übernommen wurden, einer christlichen Bewegung, aus der AA hervorgegangen war. Die sechs Schritte des mündlich weitergetragenen Programms sind:

1. Wir gaben zu, dem Alkohol gegenüber machtlos zu sein.

2. Wir machten eine moralische Inventur unserer Sünden oder Fehler

3. Wir bekannten uns einer anderen Person gegenüber im Vertrauen zu unseren Verfehlungen

4. Wir leisteten Wiedergutmachung bei all jenen, denen wir durch unser Trinken schaden zugefügt hatten

5. Wir versuchten anderen Alkoholikern zu helfen, ohne an Belohnung in Form von Geld oder Prestige zu denken

6. Wir baten Gott, wie wir ihn verstanden, um die Kraft, diese Gebote befolgen zu können.

Während dieser jungen Tage von AA war von „Vorschlägen“ keine Rede. Die grundlegenden Punkte des Programms wurden von allen älteren Mitgliedern als Richtlinien, als unentbehrliche Wesensmerkmale gesehen, und wurden den Neuankömmlingen auch als solche vermittelt.

Auch als Bill die 12 Schritte formulierte, verstand er sie als Anweisungen, nicht als Vorschläge. Als die Idee, die Schritte als Vorschläge zu präsentieren aufkam, versperrte Bill sich ihr lange Zeit völlig. Nach langem Kampf gab er widerwillig nach. In „Alcoholics Anonymous Comes of Age“ führte er aus, wie dieses Zugeständnis es unzähligen AAs, die sonst abgeschreckt worden wären ermöglichte, sich der Gemeinschaft anzunähern.

Es gilt jedoch zu beachten, daß Bill sehr darauf bedacht war, sich vorsichtig auszudrücken und jede zerstörerische Kontroverse zu vermeiden. Es bleibt die Frage, ob seine wahren Gefühle zu der Entscheidung, die 12 Schritte in Form von Vorschlägen zu präsentieren nicht doch ein wenig zwiespältiger waren, als er bereit war öffentlich zuzugeben, nachdem man sich auf den Kompromiß geeinigt hatte. Es läßt sich wohl kaum in Abrede stellen, daß die Absätze im 5. Kapitel des „großen Buches“, welche den 12 Schritten vorangehen, eher dazu geeignet sind auf eine Reihe von Anweisungen vorzubereiten als eine Reihe von Vorschlägen. Lassen Sie uns den Anfang des 5.Kapitels betrachten, wobei die Schlüsselwörter – und Sätze unterstrichen sind:

Selten haben wir jemanden gesehen, der gescheitert ist, obwohl er unseren Weg gewissenhaft gegangen war. Nicht zur Genesung gelangen diejenigen, die sich nicht ganz in dieses einfache Programm einbringen können oder wollen. Meistens sind es Männer oder Frauen, die aus ihrer Veranlagung heraus sich selbst gegenüber nicht ehrlich sein können. Solche Unglücklichen gibt es. Es ist nicht ihre Schuld. Es scheint, als seien sie so geboren. Sie sind von Natur aus nicht in der Lage, eine Lebensweise anzunehmen und für sich zu entwickeln, die eine absolute Ehrlichkeit verlangt. Ihre Genesungschancen liegen unter dem Durchschnitt. Darüber hinaus gibt es auch Menschen, die unter ernsten Störungen in ihrem Denken und Fühlen leiden. Dennoch genesen viele von ihnen, wenn sie die Fähigkeit haben,ehrlich zu sein. Unsere Lebensgeschichten offenbaren, wie wir waren, was geschah und wie wir heute sind. Wenn Sie sich darüber klargeworden sind, daß Sie haben wollen, was wir heute besitzen und wenn Sie willens sind, den ganzen Weg zu gehen, um es zu bekommen – dann sind Sie auch bereit, dafür gewisse Schritte zu tun.“

„Vor manchen Schritten scheuten wir zurück. Wir dachten, wir können einen einfacheren, bequemeren Weg finden. Aber das ging nicht. Ernsthaft und eindringlich bitten wir Sie von Anfang an furchtlos und gründlich zu sein. Einige von uns hatten versucht, an alten Vorstellungen festzuhalten: Das Resultat war gleich Null, bis wir kapitulierten.“

„Denken Sie daran, daß wir es mit Alkohol zu tun haben: Er ist verschlagen, trügerisch, mächtig! Ohne Hilfe ist es viel zu schwer für uns. Aber es gibt einen, der alle Kraft hat und das ist Gott.“

Halbe Sachen nützten uns nichts. Wir standen am Wendepunkt. Hingebungsvoll baten wir Ihn um seinen Schutz und seine Hilfe. Hier sind die Schritte, die wir gegangen sind…“

Selbst wenn man zugestehen würde, daß Bill am Ende mit dem Kompromiß seinen Frieden geschlossen hatte, scheint es so, als ob seine anfänglichen Vorbehalte sich nun als weise Vorausahnung herausstellen. Zu jener Zeit jedoch erschien die permissive Art, das Programm nur in Form eines Vorschlages zu präsentieren, als reiner Gewinn für die Gemeinschaft.

Als das „große Buch“ 1938 und 1939 geschrieben wurde, hatte die AA Gemeinschaft 100 Mitglieder. 1945 lag die Mitgliederzahl bei bis zu 13.000. Der Hauptgrund für dieses explosionsartige Wachstum war, daß die Schritte ein Erfolgsrezept darstellten; sie funktionierten und waren in der Bevölkerung dringend gebraucht. Amerika war versoffen und brachte jede Menge Alkoholiker hervor.

Ein weiterer Grund für das spektakuläre Wachstum war die außerordentlich positive Berichterstattung der Presse. 1939 erschien eine ganze Reihe begeisterter Artikel über AA im „Plain Dealer“, Cleveland, welche eine wahre Flut neuer Mitglieder in der Gegend um Cleveland hervorbrachten. Diese plötzliche Expansion war das erste Indiz dafür, daß AA das Zeug dazu hatte, zu einer Massenbewegung zu werden.

Es folgte eine Reihe bedeutender Ereignisse. Im April 1939 wurde das „große Buch“ herausgegeben und mit ihm wurde das Programm erstmals in Form von Vorschlägen unterbreitet. Einige Monate später folgten die Artikel im „Plain Dealer“ und Clevelands Anonyme Alkoholiker sahen sich mit einem nie dagewesenen Zustrom von Hilfesuchenden konfrontiert. Mehr als zu der Zeit, da die Gemeinschaft kleiner und intimer war, wurde es nun attraktiv, die Vorgabe, daß alle Mitglieder alle Prinzipien ständig zu praktizieren hatten, ein wenig lockerer zu nehmen. Immer stärker wurde nun betont, daß die Schritte nur als Vorschläge zu betrachten seien. Unter den damaligen Umständen entwickelte sich die „cafeteriaartige“ Herangehensweise an das Programm: „nehmen Sie sich, was Ihnen gefällt und lassen Sie den Rest liegen.“.

Und sie schien zu funktionieren. Es stellte sich heraus, daß eine hohe Zahl von Neuankömmlingen auch ohne die intensive Arbeit an den Schritten, welch anfangs als eine Frage von Leben und Tod betrachtet wurde, nüchtern werden und bleiben konnte. Tatsächlich schien es so, als ob viele Alkoholiker zum Trockenbleiben nichts weiter benötigten als das Eingeständnis der Machtlosigkeit, ein wenig Arbeit mit anderen Alkoholikern und regelmäßige Meetingsbesuche.

Damit soll nicht gesagt werden, daß alle AAs diese extrem permissive Art, die 12 Schritte zu arbeiten, annahmen. Sehr viele entschieden sich weiter für die ursprüngliche, das ganze Programm umfassende Herangehensweise. Doch nun hatte sich erstmals die Machbarkeit anderer, weniger rigoroser Herangehensweisen etabliert und eine Entwicklung nahm ihren Anfang, die im Laufe der Zeit an Bedeutung gewinnen sollte

Zunächst schien dies ein reiner Segen zu sein. Schließlich hatte jeder, der sich dazu entschied alle 12 Schritte zu arbeiten die Freiheit dazu, dies zu tun. Jene, welche es bevorzugten nur mit einigen oder gar zwei Schritten zu arbeiten blieben auch trocken. Und AA zog mehr und mehr neue Mitglieder und mehr und mehr Anerkennung auf sich. 1941 erschien Jack Alexanders Artikel über Anonyme Alkoholiker in der „Saturday Evening Post“. Zu diesem Zeitpunkt lag die Mitgliederzahl bei 2.000. Während der nächsten neun Monate vervielfachte sie sich um 400%.

Jetzt war es möglich, drei verschiedene Herangehensweisen an das Programm zu unterscheiden, die wir als „schwachen Kaffee Ansatz“, „mittelstarken Kaffee Ansatz“ und starken Kaffee Ansatz“ bezeichnen wollen. Starkes AA war die ursprüngliche, unverdünnte Portion geistiger Grundsätze. Starke AAs arbeiteten alle 12 Schritte – nicht nur einmal, sondern fortwährend. Sie blieben nicht bei dem Eingeständnis der Machtlosigkeit stehen, sondern machten sich sofort anschließend daran, ihren Willen und ihr Leben der Fürsorge Gottes anzuvertrauen. Sie begannen, rigorose Ehrlichkeit in allen ihren Angelegenheiten zu praktizieren. Ohne lange zu zögern, machten sie eine moralische Inventur von sich selbst, gaben ihre Fehler mindestens einer anderern Person gegenüber zu, leisteten wo immer es möglich war Wiedergutmachung für ihre Verfehlungen, fuhren fort, Inventur zu machen, gaben also weiterhin ihre Fehler zu und machten regelmäßig Wiedergutmachung, beteten und meditierten jeden Tag, gingen zu zwei oder mehr AA Meetings pro Woche und arbeiteten aktiv im 12. Schritt, um so die AA Botschaft an andere weiterzugeben, die in Schwierigkeiten steckten.

Die mittelstarken AAs begannen ihre Karriere auch mit wehenden Fahnen, ungefähr so wie die starken AAs, nur daß sie sich bei den Teilen des Programms, vor denen sie Angst hatten oder die sie nicht mochten – die Schritte, die Gott beinhalten z.B. oder die Inventurschritte – je nach ihren persönlichen Abneigungen – ein wenig windeten und sie vor sich hinschoben. Aber nachdem sie eine Weile nüchtern geblieben waren, ließen die mittelstarken AAs die Zügel ein wenig lockerer und richteten sich schließlich in einem Programm ein, das ungefähr wie folgt aussah: ein AA Meeting pro Woche; gelegentliche Arbeit im 12. Schritt (wobei man dies im Laufe der Zeit zunehmend den „Neuen“ überließ); ein wenig Arbeit in den Schritten (aber nicht so wie am Anfang); immer weniger Inventur (in dem Maß, indem sie zu „angesehenen Bürgern“ wurden); noch ein bißchen Gebet und Meditation, aber nicht täglich, aufgrund der geschäftlichen Verpflichtungen, Freizeitaktivitäten und des anderen Gepäcks, welches die Rückkehr ins normale Leben so mit sich brachte.

Die schwachen AAs waren ein bunt gemischter Haufen. Was sie alle gemein hatten war, daß sie weite Teile des Programms von Anfang an ausließen. Machmal die Gottschritte, manchmal die Inventurschritte, oft beides. Schwache AAs neigten dazu Dinge zu sagen wie: „Alles, was Du tun mußt, um nüchtern zu bleiben, ist auf Meetings gehen und das erste Glas stehen lassen“. Die meisten schwachen AAs, die erfolgreich trocken blieben, waren fleißige Meetingsgänger. Da sie so wenig mit den Prinzipien arbeiteten, hing ihre Genesung in besonders starkem Maße vom Kontakt zu den Menschen von AA ab

Tatsache ist, daß nur die „starker Kaffee AAs“ das Programm so arbeiteten, wie es im „großen Buch“ steht. Auch wenn die „mittelstarker – und schwacher Kaffee AAs“ jedes Recht der Welt hatten, ihr Programm so zu arbeiten, wie es ihnen in den Kram paßte (u.U. also auch gar nicht), da die Schritte nur Empfehlungen waren, bleibt doch Fakt, daß die Herangehensweise der ersten Mitglieder, so wie es im „großen Buch“ beschrieben steht, eben dem „starken Kaffee Ansatz“ entsprach.

Der mittelstarke Ansatz hatte und hat noch immer einen echten, konstruktiven Platz im Genesungsplan von AA, insofern als daß er als Ausgangspunkt für noch etwas zurückhaltende Anfänger dienen kann. Die mittelstarke Herangehensweise ermöglicht es vielen, denen der starke Ansatz anfangs zu viel ist, erst einen Fuß in die Tür von AA zu setzen.

Aber mittelstarkes AA kann zu einer Falle werden, und wird es auch oft. Ein AA Mitglied sollte sich nicht dauerhaft darin einzurichten versuchen. Leute, die zu lange in mittelstarkem AA hängenbleiben überschreiten irgendwann den Punkt, an dem sie noch dazu ermutigt werden können, zu starken AAs zu werden und rutschen am Ende in schwaches AA zurück.

Schwaches AA hat keine der erlösenden Wirkungen von mittelstarkem AA. Es steht in klarem Widerspruch zu dem Programm, so wie es im „großen Buch“ niedergeschrieben ist. Es basiert auf der strikten und nicht verhandelbaren Ablehung essentiell wichtiger Prinzipien in Genesung. Schwache AAs lassen die meisten 12 Schritte aus. Sie verdünnen das Programm bis zu dem Punkt, an dem von einem Programm im Sinne der ersten Mitglieder von AA nicht mehr die Rede sein kann. Eine genauer beschreibende Bezeichnung als „schwaches AA“ für diesen Ansatz ist „weggellassenes und verdünntes AA“, oder kurz „WUV AA“. Im Laufe der Zeit hat sich der WUV Ansatz in AA eingebürgert und an Anhängerschaft hinzugewonnen.

Während der ersten Jahre ihrer Existenz fühlten sich WUV AAs noch dazu genötigt, ihren „heterodoxen“ Ansatz anzupreisen, zu verteidigen und die starken AAs zu dafür zu kritisieren, daß sie zu streng und scheinheilig seien. Die starken AAs ihrerseits waren eher entspannt und zurückhaltend, nicht so scharf und defensiv. Schließlich war ihre Methode letzten Endes die sicherere, schließlich nahm man nach ihr mehr des Heilmittels ein. Und wie das „große Buch“ bescheinigte, war es offensichtlich der ursprüngliche und wahre Ansatz.

Das Zusammentreffen dieser beiden Einstellungen übte eine besondere Wirkung auf die Bewegung aus, die stolz darauf ist, auch die abwegigste Meinung zu hören und gewähren zu lassen. Die lautesten Stimmen waren die der Heterodoxie und kamen so stets rechtzeitig, um die Neuankömmlinge zu beeinflussen. WUV AA kam „in Mode“, es war die Zukunft; starkes AA wurde in weiten Kreisen als etwas schwerfällig und anachronistisch betrachtet.

Die WUV AAs haben Bill und die ersten hundert Mitglieder gewissermaßen widerlegt. In der Einführung zu den 12 Schritten brachten diese durch den Satz „Wir dachte, wir können einen einfacheren, bequemeren Weg finden. Aber das ging nicht.“ zum Ausdruck, daß es nötig war, alle 12 Schritte zu arbeiten. Aber die WUV AAs arbeiteten nicht alle Schritte und blieben trotzdem trocken. Sie hat einen einfacheren, bequemeren Weg gefunden. Es ist nur menschlich, daß dieser weniger fordernde mittelstarke bis schwache Ansatz bald beliebter war als der alte, strengere Ansatz, der immer seltener wurde. Wer will Dinge auf die harte Tour erledigen, wenn er es nicht muß? Wer will ein Auto mit Handschaltung fahren wenn das Modell mit Automatik hundert Dollar billiger ist?

AA besteht nun seit über vierzig Jahren. Es wird nachwievor viel davon geredet, wie wichtig es sei, alle Schritte zu arbeiten und rigorose Ehrlichkeit in allen seinen Angelegenheiten zu praktizieren. Aber tatsächlich handeln nur wenige AAs auf täglicher Basis danach – vor allem, nachdem sie ein paar Monate nüchtern waren.

Die Rückkehr zu niedrigeren, „normaleren“ Erwartungen scheint die Order des Tages zu sein. Jene, welche weiterhin starkes AA praktizieren, müssen auf Meetings aufpassen, was sie sagen. An vielen Orten wird zuviel oder zu ernsthaftes Reden von Gott als schlechtes Benehmen angesehen. Das Gleiche gilt für das Gespräch über Beichte, Wiedergutmachung und rigorose Ehrlichkeit – vor allem wenn es um so wichtige und schwierige Lebensbereiche wie Bewerbungen, Steuerrückerstattung, Geschäftsabschlüsse und Liebesgeschichten geht.

Aber wenn schwaches AA funktioniert – wenn es Genesung hervorbringt – was ist dann so falsch daran? Vielleicht ist dies ein Beispiel dafür, daß Heterodoxie der Orthodxie überlegen sein kann. Warum sollte sich irgendjemand den Extraaufwand machen, starkes AA zu praktizieren? Am Anfang des 6. Kapitels steht ein ziemlich guter Grund. Schwaches AA bringt eine viel geringere Lebensveränderung mit sich als starkes AA. In vielen Fällen reicht diese relativ oberflächliche Veränderung nicht aus, um die Trinkgewohnheit zu brechen. In vielen anderen Fällen scheint sie zunächst zum Erfolg zu führen, der aber nicht anhält und früher oder später mit Rückfall endet.

Die ersten AAs strebten nicht nur nach Trockenheit. Dies wäre wohl aus weltlicher Sicht das Vernünftigste gewesen. Aber die Gründer von AA waren von einer Idee beseelt. Sie gingen an das Problem mit der Unvernunft eines Mannes auf göttlicher Mission heran.

Der „vernünftige“ Ansatz war schon probiert worden und hatte versagt. Wenn man dem Trinker reine Abstinenz zur Zielvorgabe macht – nach dem Motto „Warum reißen Sie sich nicht zusammen, versuchen, Ihre Willenskraft einzusetzen und hören einfach auf zu trinken“ – funtkionierte es nicht. Kurze Zeit später fielen diese Kandidaten ins Trinken zurück. Die Entdeckung, die AA ausmachte war, daß wenn man einen Alkoholiker in einen Zustand versetzte, der weit über Abstinenz hinaus ging, wenn er eine echte spirituelle Bekehrung durchlebte und eine völlig neue Beziehung zu Gott aufbaute, dann geschah permanente Abstinenz automatisch als lebensrettendes Nebenprodukt. So ging es Bill. So ging es Dr. Bob. So ging es den ersten einhundert Mitgliedern. So, dachten die Autoren des „großen Buches“ hätte es allen gehen sollen.

Ursprünglich lauteten die 12 Schritte wie folgt: „Nachdem wir als Ergebnis dieser Schritte eine spirituelle Erfahrung erlebt hatten, versuchten wir diese Botschaft zu Alkoholikern weiterzutragen und diese Grundsätze in allen unseren Angelegenheiten anzuwenden.“ Die zwei Schlüsselwörter sind „spirituelle Erfahrung“ und „als Ergebnis dieser Schritte“. Dahinter stand der Gedanke, daß es ohne spirituelle Erfahrung keine Genesung geben würde. Ferner ging man davon aus, daß die Arbeit in den Schritten nicht zu vielen unterschiedlichen Ergebnissen führen würde, sondern stets zu dem einen Ergebnis einer spirituellen Erfahrung. Für die ersten Mitglieder bedeutete spirituelle Erfahrung, daß Gott das eigene Leben greifbar berührt hat und ihm eine neue Wendung gegeben hat.

Irgendwann zwischen dem Erscheinen des Artikel im „Plain Dealer“ 1939 und 1941, als die Artikel von Alexander in der „Post“ erschienen, kam es zu einem bedeutenden Wandel im Denken AAs. Niemand in AA war sich dessen wirklich bewußt und bis heute haben weite Teile der Gemeinschaft diesen Prozeß nicht erkannt. Was sich änderte, war das Gewicht, welches man den Prinzipien der Genesung einerseits und der Gemeinschaft in AA andererseits zumaß.

Bis 1939 war AA eine kleine, unbekannte Organisation, die zwar ausgezeichnete Erfolge vorzuweisen hatte,die sich dabei aber nur auf eine kleine Zahl von Fällen berufen konnte, und die sich langfristig erst noch zu bewähren hatte. Die genesenden Alkoholiker in der Bewegung verließen sich aufeinander und arbeiteten eng zusammen. Aber die Prinzipien standen an erster Stelle, sie waren es, die die gewünschte Lebensänderung herbeiführten. Die Bewegung war gar nicht groß genug, als das man sich auf sie anstatt auf harte Arbeit in den Schritten hätte stützen können.

Nachdem AA groß geworden war, nachdem es nationale Anerkennung gefunden hatte, eröffnete sich die Möglichkeit zu einer neuen Art von Beziehung zur Gemeinschaft, die vorher nicht gegeben war und welche die Gründer nicht vorhergesehen hatten. Nun konnten Alkoholiker zu Meetings kommen und nüchtern bleiben ohne eine sprituelle Bekehrung zu durchleben, einfach durch Mimose – oder Imitation – durch das Praktizieren des einfachen Prinzips „Wenn Du in Rom bist, dann tu was die Römer tun“.

Und so funktionierte es: Der Neuankömmling trat einer großen, erfolgreichen Organisation bei. In diesem Club war es üblich, nicht zu trinken, wenn der Neuankömmling also die Leute, die er in AA traf, mochte und mit ihnen verbunden bleiben wollte, dann gab er das Trinken auf. Er machte AA Meetings und AA Leute zum Schwerpunkt seines gesellschaftlichen Lebens und seiner Freizeitbeschäftigungen und blieb trocken, mehr durch die Gruppendynamik als durch irgendetwas anderes.

Diese völlig andere, ziemlich unspirituelle Genesungsmöglichkeit hat man sich in der Gemeinschaft nie wirklich eingestanden. Stattdessen bemühte man sich darum, „Spiritualität“ weit auszulegen, so daß sie beide Arten genesender Alkoholiker umfaßte – jene, welche als Ergebnis des Arbeitens der Schritte eine spirituelle Erfahrung hatten und dadurch eine Persönlichkeitsveränderung durchlebt hatten und die ihre Genesung ernstnahmen – und die „nüchtern-durch-Imitiation-Alkoholiker“ – jene, welche im Grunde die Alten blieben, mit Ausnahme der Tatsache, daß sie einer neuen Organisation beigetreten waren, neue Freunde kennengelernt haben und, um sich anzupassen, das Trinken aufgegeben hatten.

Nur ein Wort wurde seit der ersten Auflage des „großen Buches“ 1939 geändert. Der Ausdruck „spirituelle Erfahrung“ im 12. Schritt. Ein Mitglied meiner Stammgruppe, das 1941 zur Gemeinschaft stieß, berichtet: „Als ich zu AA kam, sprachen noch alle von „spiritueller Erfahrung“. Ein oder zwei Jahre später fingen sie an es „spirituelles Erwachen“ zu nennen.“ In jener Zeit wurde auch die offizielle Formulierung des 12. Schrittes wie folgt neugefaßt: „Nachdem wir als Ergebnis dieser Schritte ein spirituelles Erwachen gehabt haben…“ Der Ausdruck „spirituelle Erfahrung“, der zu der Zeit, da die Gemeinschaft noch klein und auf Bekehrung hin orientiert war, völlig unbestritten war, wurde nun als zu eng empfunden. Man dachte, er sei zu voreingenommen gegenüber der neuen Art von AA, welche die Gemeinschaft nun mehrheitlich bestimmte. Eine Erklärung wurde in das
„große Buch“ eingefügt:

„In diesem Buch werden die Ausdrücke „spirituelle Erfahrung“ und „spirituelles Erwachen“ vielfach gebraucht. Der aufmerksame Leser erkennt, daß die Persönlichkeitsveränderung, durch die Genesung vom Alkoholismus erreicht wurde, sich unter uns auf verschiedene Weise vollzogen hat.“

„Durch Veröffentlichungen in den ersten Jahren des Bestehens der AA-Gemeinschaft konnte bei vielen Lesern der Eindruck entstehen, diese Persönlichkeitsumwandlungen oder religiösen Erfahrungen müßten als plötzliche, dramatische Durchbrüche erfolgen. Zum Glück für alle Betroffenen ist das aber ein Fehlschluß.“

„In dem ersten Kapitel ist von solchen plötzlichen umwälzenden Veränderungen die Rede. Obgleich es nicht meine Absicht war, einen solchen Eindruck hervorzurufen, meinten doch manche Alkoholiker, daß sie zur Genesung sofort eine überwältigende Gotteserfahrung brauchten, der dann auch gleich ein tiefgehender Wandel ihres Fühlens und ihrer Lebensanschauung zu folgen hätte.“

„Unter unserer schnell wachsenden Mitgliedschaft von Tausenden von Alkoholikern sind jedoch derartige Veränderungen – wenn sie auch häufig vorkommen – keineswegs die Regel. Die meisten Erfahrungen, die wir machen, gehören zu dem, was der Psychologe William James als die ‚pädagogische Form‘ solcher Erfahrungen beschreibt. Es entwickelt sich wie alles, was zur Erziehung gehört, langsam im Laufe der Zeit. Oft nehmen die Freunde des Neulings die Veränderung seines Wesens lange vor ihm selbst wahr. Am Ende sieht auch er ein, daß bei ihm in seiner Reaktion auf das Leben ein grundlegender Wandel eingetreten ist. Und er weiß, daß diese Veränderung kaum allein durch ihn selbst hätte zustande gebracht werden können. Was sich da oft im Verlauf weniger Monate ereignete, das hätte er kaum in langen Jahren der Selbstdisziplin fertigbringen können. Fast ausnahmslos entdeckten unsere Mitglieder dabei, daß sie auf eine unvermutete innere Kraftquelle gestoßen sind, die sie nun als jene ‚Macht, die größer ist als sie selbst‘, erkennen.“

„Die meisten von uns sind der Überzeugung, daß dieses Wissen um die Gegenwart einer ‚Macht, die größer ist als wir selbst‘, das Wesen der spirituellen Erfahrung darstellt. Unsere Mitglieder, die ausgesprochen religiös sind, nennen es das ‚Gottes – Bewußtsein‘.“

„Wir haben entdeckt, daß niemand mit der Spiritualität unseres Programmes Schwierigkeiten zu haben braucht. Bereitwilligkeit, Ehrlichkeit und Aufgeschlossenheit sind die Grundvoraussetzungen der Genesung; außerdem sind sie unentbehrlich.“

Wenn man diese Aussagen mit jenen vergleicht, welche die 12 Schritte im 5. Kapitel einleiten, vergleicht, dann ist der Unterschied erstaunlich. Das fünfte Kapitel wartet mit einer ganzen Serie von Versicherungen auf, daß das Ziel des Programms ein Leben in Gottes Hand ist und der Weg zweifelsohne ein spiritueller sein muß. In dem später beigefügten Anhang nimmt man dies quasi völlig zurück. Erklärter Sinn des Anhangs ist, auszudrücken, daß die spirituelle Veränderung, die mit AA Genesung einhergeht, nicht in Form einer plötzlichen Erleuchtung stattfinden muß. Dies mußte gesagt werden und wurde auch sehr gut rübergebracht.

Doch wurde noch etwas Anderes rübergebracht – nicht direkt aber konkludent – nämlich in der defensiven, sich zurückziehenden und geradezu apologetischen Art und Weise, in der mit dem Thema religiöser Erfahrung umgegangen wird. Die Autoren des „großen Buches“ reagierten damit auf eine Veränderung in AAs Genesungsmuster, indem sie den geistigen Erwartungshorizont für die Gemeinschaft niedriger setzten, ein Zug, den sie während der Gründungsjahre nie gewagt hätten, nun jedoch, da die Gemeinschaft gewachsen und bekannt war, nachgerade als eine Notwendigkeit empfanden. Die Umstände, die zur Umformulierung des 12. Schrittes und der Einfügung des Anhangs geführt haben, wurden wie folgt beschrieben:

„Man kann jetzt auf zwei verschiedene Arten zu genesen zurückgreifen, erstens die ursprüngliche Art, welche eine spirituelle Erfahrung durch Praktizieren der Schritte anstrebt oder zweitens durch Praktizieren nur eines Teils der Schritte bei primärem Sich-Verlassens auf die sozialen, gemeinschaftsbezogenen Aspekte des Lebens in AA.“

Der zweite Ansatz führt nicht zu einer spirituellen Erfahrung, so wie starkes, vollständiges AA das tut. Es verstößt auch gegen unsere Tradition, die besagt, daß wir stets Prinzipien über Personen stellen sollten. Doch muß man ihm zu Gute halten, daß er weniger Aufwand und Arbeit erfordert;man muß nicht sein ganzes Leben ändern und in vielen Fällen reicht er aus, andauernde Abstinenz herbeizuführen. Doch wurde dieser Wechsel nie offiziell erklärt und die Umbenennung der spirituellen Erfahrung in spirituelles Erwachen verschleierte den Vorgang.

Nicht, daß irgendjemand es bewußt darauf angelegt hätte, zu täuschen. Man versäumte es lediglich, die Spaltung in zwei Lager zu sehen, als sie sich vollzog. Es ist leicht verständlich, wie den Zeitzeugen dieser Fehler unterlaufen konnte, so wie eine Mutter das Wachstum ihres eigenen Kindes oft nicht bemerkt, haben sie es einfach nicht gesehen. In einer Bewegung, die jede Kontroverse scheut wie der Teufel das Weihwasser war die Blindheit in diesem Punkt geradezu zwangsläufig.

Ein Rückzug auf die ursprüngliche, rigorose, „starker Kaffee Herangehensweise“ hätte den neueren Mitgliedern abverlangt, sich in ein Programm drastischer spiritueller Veränderung zu stürzen, etwas, was noch nie die breite Masse angezogen hat. Wäre AA bei seinen Prinzipien geblieben, es wäre sehr fraglich, ob es zu seiner gegenwärtigen Mitgliederzahl von 850.000 (1976) je gekommen wäre.

Aber der schwache Kaffee Ansatz hatte noch weitere, ernstere Nachteile. Die relativ oberflächliche Veränderung, zu der er führt reicht aus, einige Alkoholiker trocken zu kriegen. Für eine große Zahl anderer hingegen, ist er inadequat, uneffektiv und funktioniert schlicht und ergreifend nicht. Dies sieht man vor allem bei den schweren Fällen – bei jenen Alkoholikern, die körperlich und seelisch stark mitgenommen wurden, bevor sie zu ihrem ersten AA Meeting kamen; die Fälle, deren Alkoholismus durch Drogenkonsum, Perversion, kriminelle oder psychopathische Tendenzen verkompliziert wurde und bei den „Slippern“, die sich angewöhnten in AA herumzuhängen, wo sie einige Zeit trocken bleiben, um dann wiederholt rückfällig zu werden. (Für gewöhnlich handelt es sich bei den „Slippern“ um Alkoholiker mit psychopathischen Zügen, die unwillig oder unfähig sind, die dem Programm zugrundeliegenden Prinzipien zu praktizieren, vor allem rigorose Ehrlichkeit). Schwaches AA kommt an die meisten dieser Leute nicht heran. Sie können auf diesem Wege nicht nüchtern bleiben.

Doch wenn diese schweren Fälle in Gesellschaft von Alkoholikern kommen, die starkes AA, und nur starkes AA, praktizieren, dann schaffen es viele von ihnen, andauernde Genesung zu finden. Die East Ridge Gemeinschaft in New York hat während der letzten zwölf Jahre mit hunderten solcher Fälle gearbeitet. Starkes AA ist Standard in East Ridge und unter diesen sogenannten AA Versagern erreicht man dort Erfolgsquote von bis zu 70%. Der Löwenanteil dieser Leute hätte mit schwachem AA keine Chance.

Eine weitere, heimtückischere Gefahr von schwachem AA ist die folgende: Die „Genesung“, welche von den verdünnten Herangehensweisen an AA hervorgebracht wird, hält langfristig nicht vor. Was anfänglich wie ein einfacherer, leichterer Weg zu glücklicher Genesung aussieht, führt langsam aber sicher zu Unzufriedenheit und letztendlich zu einem Rückfall in das alte Elend. Das Endergebnis mag die Rückkehr zum aktiven Alkoholismus sein; oder bestenfalls ein Leben von unzufriedener Abstinenz, Depression, zwanghaftem kranken Sex, und einem Gefühl von Sinnlosigkeit. Wie auch immer es ausgehen mag, nicht nur gehen die Vorteile des AA Programms verloren, letztendes geht sogar die Genesung verloren.

Aktuell sind zwei beunruhigende Tendenzen in AA spürbar. Die eine ist, daß die Erfolgsquote mehr und mehr sinkt. Während der ersten zwanzig Jahre lag sie bei 75%. 50% blieben sofort nachdem sie zu AA gekommen waren trocken, weitere 25% hatten eine Zeitlang Probleme, wurden dann aber auch trocken. Weitere 25% schafften es nicht. Dann kam eine Zeit, da AA Headquarters die 75% aus der offiziellen Literatur herausnahm. 1968 veröffentlichte das Weltdienstbüro eine Erfolgsquote von ungefähr 67%. Von einer Gemeinschaft, in der ursprünglich 3 von 4 Genesung fanden, war mit zunehmendem Wachstum und Alter eine Gemeinschaft geworden, in der nur noch 2 von 3 genasen. (Für 1997 lagen die Zahlen nur noch bei 1 von 15).

Der zweite beunruhigende Trend kann hier nicht statistisch belegt werden, ist jedoch für jeden Beobachter nicht zu übersehen. Mit zunehmendem Alter der Gemeinschaft nimmt auch die Zahl der Oldtimer (Mitglieder mit 10 und mehr Jahren Genesung) zu. Und dennoch stellt sich die Frage der Wirksamkeit AAs stärker denn je zuvor. Es ist eine traurige Tatsache, daß eine wachsende Zahl dieser Oldtimer sich auf der Suche nach Glück in krankhafte Religionen, gefährliche Psychosekten oder chemische Alternativen wie Acid, Marihuana, Beruhigungstabletten und Antidepressiva verrennen. Und viel zu viele davon fangen wieder an zu trinken oder legen geradezu bizarre Verhaltensweisen an den Tag.

All das ist unnötig. Die sinkende Genesungsrate und die Depression unter den Oldtimern bedarf keiner komplexen oder innovativen Lösung. Die Antwort liegt in einer Rückkehr zu starkem AA. Die Männer, die das „große Buch“ geschrieben haben, hatten doch Recht. Es gibt keinen einfacheren, bequemeren Weg. Die Extraarbeit, die man in das Arbeiten des ganzen Programmes steckt zahlt sich ungemein aus. Sie läßt Genesung erst Spaß machen, denn sie ist dann nicht mehr reiner Selbstzweck. Selbst die Kraft einer weltweiten Gesellschaft von Nichttrinkern kann bei den meisten Alkoholikern für sich genommen nur eine zeitweilige Lösung bieten.

Die übergroße Mehrheit der Menschen, die süchtig werden, haben einen mystischen Zug, sie hungern nach Spiritualität. AA funktionierte ursprünglich, weil es eine Reihe funktionierender Richtlinien zum Erreichen einer spritiuellen Erfahrung darstellte. Das Wachstum der Gemeinschaft führte dazu, daß Leute, die das Programm nur teilweise oder gar nicht arbeiteten, sich wie Parasiten in AA festsetzten und von der Kraft jener zehrten, die eine wahre spirituelle Erfahrung durchlaufen haben. Jetzt (1976) ist der Punkt erreicht, an dem der Parasit schon einen erheblichen Teil der Lebensenergie aus seinem Wirtstier AA herausgesogen hat.

Es ist fünf vor Zwölf für eine Umkehr zu den Ursprüngen. Dennoch, es steckt noch viel Leben in der Gemeinschaft. Was zu tun ist, liegt auf der Hand. Es steht in den ersten sieben Kapiteln des „großen Buches“. Worauf es, vor allem für uns Oldtimer, hinausläuft ist, die Prinzipien in allen unseren Angelegenheiten anzuwenden anstatt uns auf unseren Lorbeeren auszuruhen indem wir uns auf das berufen, was wir irgendwann einmal, zu Beginn unserer Genesung, getan haben.

Aber wir dürfen es nicht versäumen, die Notwendigkeit des Wandels zu konfrontieren, die Notwendigkeit einer Umerziehung. Selbstgefälligkeit über unsere Erfolgsgeschichte ist unser größter Feind. Wenn wir es nicht schaffen, unseren Kurs zu ändern ist klar, worauf wir zusteuern. In hundert Jahren haben wir geschafft, wozu die katholische Kirche zweitausend Jahre gebraucht hat: zu demonstrieren, das selbst die beste menschliche Organisation mit der Zeit korrumpiert wird und daß die Größe spiritueller Organisationenoft zu Lasten grundlegender Prinzipien und durch schrittweise Aufgabe der ursprünglichen Ziele und Praktiken erkauft wird.

Ich verdanke AA mein Leben. Ich hoffe, daß wir eine Vision und die Demut haben, uns zu ändern. Ich weiß, daß wir es schaffen, wenn wir nur wollen. Soviel ist sicher: die 12 Schritte sind so wirksam und praktikabel wie zu der Zeit, da sie erfunden wurden.

Quelle: POWERS, Tom, Gresham’s Law and Alcoholics Anonymous in: 24 Magazine 07/1976